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Kann man hier nicht mal in Ruhe herumasylen?

"Kann man hier nicht mal in Ruhe herumasylen?" rief mein Mitbewohner letztens, als es morgens recht früh an der Tür klingelte. Nämlich schon um zehn Uhr vormittags.
Gleich vorweg: Wenn ich hier "Ich" schreibe, meine ich nicht "ich ich", also jetzt nicht wirklich "mich ich", also auch nicht "mein" oder "mein Mitbewohner in echt jetzt", also so "wirklich" - das sage ich gleich, denn wenn hier dann "Ich" steht oder "mich" und dann vielleicht noch so etwas wie "der Polizei" oder "ich Ausland" oder "das Rattengesicht" oder "dem Suchtmittelorganisationszentralorgan im deepnet" - also wenn ich jetzt "ich" oder "mein Mitbewohner" schreibe, dann schreibt das natürlich ein "Autor", nicht ich.
Ich würde niemals bis zehn Uhr vormittags schlafen. Und dann den "Vormittag" auch noch "Morgen" nennen. Und das meine ich jetzt nicht nur "intertextuell" oder "finanziell" oder "strukturalistisch" oder "postmodern", sondern vor allem internettechnisch und mama-technisch.
Aufgrund weltweit fortschreitendem günstigem und fast uneingeschränktem Internetzugang kann meine Mama alles sehen, das ich publiziere, sie braucht nicht einmal mehr ein Abonnement eines Papier-Magazins oder eine Theaterkarte und das ist eigentlich eine Katastrophe. Sie kann von ihrer Küche aus per Laptop alles sehen. Mit wenigen Klicks hat sie in den letzten Jahren alle meine Facebook-Accounts ausfindig gemacht, vor allem jene, die nicht "ich" waren, also gar nicht "meine" - sondern eben nur Text. Text, der mittlerweile das gesamte "Internet" bespielt, das ist ja die nächste Katastrophe, dass ein Schlagwort im "privaten" Facebook-Chat mittlerweile sofort zu einer Playlist-Empfehlung auf youtube führt und das Schlagwort zuvor entscheidet die Werbeeinspielung vor dem Musikvideo auf youtube und - ich Trottel habe als Beta-Tester das alles auch erst noch mitoptimiert und tausende von Syntaxbezüge erstellt.
Leider fehlen trotz meiner gewaltigen Ambitionen zu Texteingabe-Projekten noch immer eine ordentliche Menge an reaktiven Werbeanzeigen und Angeboten auf facebook, youtube und auch sonst zu Schlagwörtern wie "Finanzkrise", "Kunst und Kulturbudgetkürzungen", "Existenzangst", "Suizidgedanken", "lasst Europa nicht sterben", "Nembutal", "gratis Therapieplatz in der Schweiz", "Totalkonkurs", "Exekutor", "Delirium", "Kontosperre", "Champagner statt Existenzangst", "Kiffen Saufen Feiern", "Pentobarbital-Natrium", "Küchenbrand", "noch mehr Existenzangst", undsoweiter undsoweiter - Privatsphäre und freier Markt treffen sich also noch immer nicht wirklich reaktiv. Besonders wenig lösungsorientierte Netz-Reaktionen gibt es noch immer für den Eingabetext "aufgewärmter Spinat für das Kind" oder "Hilfe der Mitbewohner flippt aus und hat mich an den Küchentisch gefesselt". Zu wirklich existenziellen Situationen fehlen potentielle Kaufoptionen.
Ich und meine Mama hatten jedenfalls seit einiger Zeit ein riesiges Problem, was Privatsphäre angeht. Tja, Knowledge is Power würde da so mancher denken, so etwas ähnliches dachte sich meine Mama wohl auch und zeigte mich sicherheitshalber bei der Polizei an, nur um sicher zu gehen, dass sich in meiner Wohnung kein Drogenlabor, keine russischen Zuhälter oder geisteskranke Immobilienmakler befinden.
Auf eine gewisse Art bin ich meiner Mama dafür dankbar. Denn ich hatte tatsächlich aufgrund einiger facebook-Accounts Probleme mit Stalkern und geisteskranken Immobilienmaklern, so wie fast jede junge Frau im Internetzeitalter. Also, danke Mama, für den intensiven Kontakt mit der Polizei, nun weiß ich immerhin, wie man safen-Sex im Internet betreibt und um Stalker kümmert sich nun mein Lieblingspolizist, Herr Daniel, der besonders mitfühlend und sachlich alle wichtigen Punkte mit mir wiederholt hat, wie man  Psychopathen nicht beschimpfen darf, weil man sie dadurch nicht losbekommt, im Gegenteil: man motiviert sie dadurch.  
Da ich immer noch gezwungen bin, mit Texten mein Geld zu verdienen, muss ich nun eben besonderen Wert auf Sicherheit legen, als ob Intertextualität nicht schon kompliziert genug wäre.
Wenn ich nun also hier "mein Mitbewohner" schreibe, dann ist das jetzt einfach notwendig, weil ich ansonsten kein Narrativ zusammenbringe, und ich meine damit ganz sicher nicht meinen Mitbewohner. Es könnte also auch sein, dass ich überhaupt keinen Mitbewohner habe oder mein Mitbewohner völlig anders aussieht, als der, von dem ich hier erzähle. Wenn sich also jetzt irgendein Leser angesprochen fühlt und den Eindruck hat, ich würde über ihn schreiben und auch noch behaupten, er sei mein Mitbewohner, dann ist das nicht so, sondern dann ist das ein Missverständnis, ok? Ok. Und wenn hier jemand behauptet, "ich" sei wirklich "ich", dann wäre das sowieso Wahnsinn. So eine Person muss mit einer Klage wegen Verleumdung rechnen, ok? Ok. "Ich als Privatperson" schlafe zum Beispiel niemals bis zehn Uhr morgens, würde ich nie tun, ich würde mich dafür extrem schämen. Also.
"Kann man hier nicht mal in Ruhe herumasylen?" rief mein Mitbewohner letztens, als es morgens recht früh an der Tür klingelte. Nämlich schon um zehn Uhr vormittags. Im Vorraum stand ein Mensch aus dem Nachbardorf. "Sind Sie no gar ned auf?" fragte der Mensch. "Na, natürlich nicht, heut ist Montag", sagte mein Mitbewohner. "Aso, jo, I wollt a ned störn," sagte der Mensch, "es is nur wegen den Asylanten, wir sind ja nicht fremdenfeindlich, nur die Anzahl, die Anzahl in Relation, die überfordert uns."
"Und wer ist jetzt uns?" fragte mein Mitbewohner.
"Schauns, des is unser Flyer. Und mia hobn drüben nebn der Hauptstroßn a großes Plakat aufgstöllt, do steht des söwe drauf, aber in große Schrift, ma kaunns a von der Stroßn aus lesn," der Mensch streckte einen Flyer in Sichtweite.
"Aha, jo. Und wos moch I jetz mit dem?" fragte mein Mitbewohner.
"Mia wulln nua informiern. Dass mia des jetz mochnan," sagte der Mensch und legte einen Stapel mit weiteren fünfzig Flyern auf die Kommode im Vorraum.
"Dass ihr jetzt wos mochts?!" hörte ich meinen Mitbewohner stöhnen, doch der Informator rief schon "Danke, und I wullt ned stearn, olles guate!" und die Tür schlug ins Schloß.
"Heast, wos bitte mochts ihr denn jetzt..." - mein Mitbewohner blieb zurück mit einem Stapel Flyer, auf denen ein Foto eines handgemalten Plakats aufgestellt in einer Wiese abgedruckt war mit dem Text  WIR SIND NICHT FREMDENFEINDLICH NUR DIE ANZAHL IN RELATION ÜBERFORDERT UNS.  
"Oida, und I hab glaubt die Ungarn san deppat, owa ihr sads a deppat," mein Mitbewohner schlurfte in die Küche, machte Lärm mit der Kaffeemühle, dann roch es nach aufgebrühtem Kaffee.
"Kann ich nicht mal in deiner Wohnung rumasylen, ohne dass ich von Kaffeemühlenlärm und Türenknallen aufgeweckt werde jeden Tag?!" rief ich vom Sofa aus in die Küche.
"Wenn dir was nicht passt, kannst ja zurück nach Ungarn gehn!" rief der Mitbewohner und knallte eine Küchenschranktür zu. "Sind eh nur zehn Kilometer rüber, hier ist Burgenland, hier gibt es elektrische Kaffeemühlen."
Ich schlurfte durch die Küche ins Bad.
"Wenn du dich nicht anpasst, zieh ich mein Angebot mit wohnen hier zurück," grunzte der Mitbewohner und schob sich den Rest seiner Topfengolatsche in den Mund.
"Jaja, mach nur..." murmelte ich und verschwand im Badezimmer.
"Vielleicht sollte ich wirklich ein paar Syrer hier aufnehmen," räsonierte mein Mitbewohner, während er sich ein Ei köpfte und ich in meinem Müsli rührte.
"Aha. Und dann?" fragte ich.
"Der Willi braucht immer a paar Pfuscher und der Didi ist jetzt selbstständig, der wird wohl ein, zwei Dachdecker einstellen können. Die Asylanten in Tschantschendorf wohnen dort jetzt schon seit zwei Jahren, dort wird ihnen überhaupt nix geboten, arbeiten dürfen sie auch nicht. Bei uns hier würd sich ein geileres Angebot wahrscheinlich wie von selber ergeben, du kannst ja Sprachkurse geben."
"Aha. Im Wohnzimmer am Sofa schlaf aber ich. Wo schlafen dann die Syrer?" fragte ich und war mir nicht mehr sicher, ob mein Mitbewohner seinen Sinneswandel der letzten  Wochen noch unter Kontrolle hatte. Ich hatte ihm anfängliche Bedenken über notgeile junge Araber, die die Strassen in Unterhenndorf, Mitterhenndorf und Henndorf unsicher machen würden mit anarchistischer Härte ausgeredet und ihm gedroht, meinen Asylstatus bei ihm zu kündigen, würde er seine idiotischen Triebtäterfantasien nicht sofort aufgeben. Dann überredete ich ihn noch, gemeinsam über die ungarische Grenze zu fahren und zwei Säcke Pullover und Schuhe in ein Lager zu bringen, das im wesentlichen vom österreichischen Roten Kreuz organisiert wurde und tollerweise von ungarischer Polizei sicherheitshalber bewacht wurde. Wir waren einigermaßen überflüssig, denn es war noch Sommer und die Flüchtlinge auf der Durchreise interessierten sich noch nicht wirklich für Wollpullover und feste Wanderschuhe.
"Die schlafen am Sofa in der Küche," meinte der Mitbewohner. "Es kommt ja nur auf die Relation drauf an."
"Welche Relation?" fragte ich.
"Naja. Hier im Haus wohnen wir zwei, der Didi, die Eva, Kurt und deren Tochter und der Hund und Motti. Also können wir eigentlich sechs Syrer aufnehmen und einen syrischen Hund."
"Und die schlafen dann auch beim Didi drüben in der Wohnung oder alle hier?" - ich war mir nicht mehr sicher, ob mein Mitbewohner seinen Aktivismus noch unter Kontrolle hatte.
"Syrischen Kater nicht, das würde Motti irritieren," der Mitbewohner war heikel, wenn es um seinen Hauskater ging. "Früher war das ja auch nicht so, da haben wir ja auch zu zehnt am Boden geschlafen im halb fertig ausgebauten Hof und WG und alles und eigentlich war das das bessere Leben. Wir waren damals ja auch für Arafat, aber gut, das kann man jetzt alles nicht mehr vergleichen. Aber es ist wichtig zu zeigen, wir sind nicht fremdenfeindlich, nur die Anzahl in Relation überfordert uns, verstehst?"
Als der Mitbewohner endlich doch zur Arbeit gefahren war, war ich ganz froh, dass ich hier die Arbeitslose bin und nicht er.
Er würde das überhaupt nicht aushalten, arbeitslos zu sein. 



Bild (c): https://commons.wikimedia.org/wiki/File:HRC_logo_with_Happy_Human.svg
Autor: RayneVanDunem

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[Artikel/Sahra Gabriele Foetschl/21.10.2015]





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